Bazon, c'est un "nom de guerre" et le Brock "un homme comme une
pierre". (Knittelvers eines Gefreiten)
Frontal. Wie kommt der Suchende nach Verbokratien? Immer an der Wand lang! Auch die ist mit Kriegsparolen beschmiert. Wir bewegen uns zwischen den Fronten mit all ihren Ernstfällen hindurch in das zu allem und jedem gehörende Niemandsland. Es ist das Reich der Mitte: Hier fließen Sprachströme, steigen Sprechblasen und fliegen die Wortfetzen. Und hier – wie überall – hat zunächst nur einer das Sagen.
Montag, 22. Dezember 2008
Der Generalist in Verbokratien. Beschreibung einer Kriegslandschaft
Genius loci. Der Verbokrat ist Herrscher über alle Worte und Beherrscher der Sprache. Der gesprochenen muß hinzugefügt werden, denn die Wucht der körperlichen Präsenz des Potentaten dient seiner Botschaft als Medium. Und seine erlauchte Präsenz bewegt sich, denn sein Reich wird kommen durchs Gehen. Nur der Wandersmann im Geiste wird Verbokratien ermessen. Den Durchblick erschreiten. Seine Kanzel ein Feldherrnhügel, der point de vue. Ein sitzender Denker versündigt sich am Müßiggang. Panta rhei, alles sei im Fluß, gebietet uns weislich der Verbokrat. Und er bewegt sich doch. Niemand wird werden im Verharren. Wahrer Luxus liegt im Fluxus, befand der Herrscher zur Sturm und Drang--Zeit, und schritt voran in seiner Mission. Als Punktum sei der Still-stand erlaubt. Punkt um. Der Kopf als Träger eil'ger Botschaft schafft Zäsur im Standfuß, um auch den Trägsten Spielbeine zu machen. Wenn schon verweilen, dann kopfüber – auf daß das Edle im Geblüt Schläfen schwellt und Zunge spitzt. Aus ihr Schwerter im Gemüt des Untertans zu schmieden.
Das Performative als Essenz des Vortrags ist schlechthin Lebenselixier des Oberhaupts, ja sämtlicher GenossInnen aus Verbokratien. Arbeiten und bauen, alles zerhauen, wieder aufbauen. So entstehen neue Brockhäuser. Des Potentaten "Hoch und Tief", bar jeder Kanzlerprämie. Auf die pfeifter nämlich. Seine Bühne sind die Gegenwarten der Zeitläufte. Mehr noch, ihre künftigen Vergangenheiten, aus deren Zivilisationsmüll und kulturellen Kleinst- bis Großkleckereien er die ideellen Requisiten seines Parlandos destilliert: Alles andere ist kalter Kaffee. Desiderat: eben nicht aus dem Kaffesatz zu lesen, sondern den Fakten auf den Busch klopfen. Wortwörtlich den Stein der Weisheit ins Rollen bringen. Letter um Letter, Buchstabe um Buchstabe. Sein Talent im Retournieren während turbulenter Wortgefechte ist Legende auch über die Grenzen der Heimat hinaus. Mit dem Vers- das Mittelmaß beugen. Nach berühmt-berüchtigtem Ausfallschritt und blitzgescheitem Toucher wurde so mancher Schmalspur-Aspirant, den es nach des Generalissimos Titel lüstete, vom Parkett öffentlicher Deklamation in ein gnädiges Vergessen seiner mediokren Begabung hinabgetaucht. Hinkefüße von Verstandesmögen möchten sich als Fußnote der Geistesgeschichte bescheiden.
Wenn der Verbokrat – von Eingeweihten auch respektvoll "Normenklator" geheißen – seinem Volke Lektionen subversiven Angepaßtseins an den Regelkanon der Republik um die Ohren schlägt, sind schon manche heiß gelaufen. Doch Hören und Sehen wird ihnen gerade nicht vergehen, lautet denn das Motto: Im Gehen verstehen. Die Sinne zu schärfen, sei es mitunter vorgekommen, daß der Präsident jene in persona langzieht und die ocelli radikal öffnet, dem weißen Rauschen sinnentleerten Wortgebrabbels und Bilderspektakels in des Bürgers Sinnesorganen den Garaus zu bereiten. Offensichtlich binokular, mit beiden Augen wach in die Welt blicken, sich nicht nur auf dem Holzweg artkonformen Verhaltens entlang tasten. Diese Devisen hat jedermann in der Tasche und täglich in seiner Hand. Die Entlohnung wird orbital sein. Doch still für nun ... dies ist klandestines Wissen und darf nur geflüstert werden in Verbokratien.
Steinschläge und Thesen-Witze. Es gibt keine Entwürfe, keine Drehbücher, keine Pläne für das, was gesagt werden m u ß. Ihre Evidenz gibt sich die Ehre. Die Vernunft liegt in der Luft. Es gilt, sie aufzufangen. Tief inhalieren, sonst wird sie subkutan verabreicht, und das geht unter die Haut. Kopfnüsse-Knacken als Denksport-Wettbewerb. Jede Lektion, jeder Vortrag ist verbale Absonderung en passant, die die gewaltige intellektuelle Verdauungsmaschine Brock vom Wissensberg der Menschheit ablöst. Und einmal ins Rollen gekommen, werden aus frei flottierenden Thesen oder Theoremen gewaltige Geröllmassen aus dem Steinbruch der Kulturgeschichte. Achtung, Steinschlag! Es kreißt der Berg und herauskommt: der Thesen-Witz! Brock ist ein Einmann-Manöver zur Zertrümmerung abendländischen Bildungsgutes, das dessen Segmente mittels der Strategie negativer Affirmation erneut im kulturellen Unbewußten seiner Hörer versenkt. Selbst der belesenste Klugscheißer wird hier noch eines Besseren belehrt. Jedes Ding hat sechs Seiten. Argumente haben zumindest zwei. Gib' den Ja-Sagern contra, damit sie endlich kapieren, daß der Grund der Ideen das reflektierte Spiegelbild ihrer Oberfläche ist. Bildungsbürgertum versenkt, das Denken gerettet! Roger. Wehe denen, die keinen Freischwimmer besitzen.
Rezepturen für Taubenzucht und andere unverdauliche Ernstfälle. Geschlossene Gesellschaften und onanistische Bünde sind favorisiertes Feindesland. Mein lieber Herr Gesangsverein, hier kommt euer Vorsänger. Bewegungslose Tümpel werden von Tsunamis überrollt. Der wortgewaltigen Naturgewalt liefern die Dümpler im eigenen Saft und Verzagten in Verzug selber das Frühwarnsystem. Bloß keine Windung zuviel erwandern im engen Gehirnkästelein. Dabei: Kahlschlag erwünscht! Begeisterung flott machen. Hirnsegel hissen für die Rezeptur der Fröhlichen Wissenschaft. Schmorbraten gibt's nur mit raffinierten Zutaten. Nie in derselben Soße bruzzeln. Das schmeckt besonders und hat neue Aromen. Mitunter dicke Brocken, die dada geschluckt werden müssen. Zuallererst vom Vorkoster selbst. Du, unser aller Verdauungsgenie. Hungergrimmen und Meteorismus inklusive. Appetit und Ausstoß eines Renaissancemenschen.
Der Thesen--Zauberer und Magier des Wissens, bei dem bis heute zweifelhaft sein kann, worauf er hinaus will oder worauf man sich bei ihm einläßt, speichert und ruft das Wissen anhand von assoziativen Ketten. Ideale Grüppchenbildung, ganz apart, weit entfernt von Vereinsmeierei. Nie 'n Parteibuch gehabt! Das Denken ist solipsistisch, die Einsamkeit wird mitgebucht. So entwickeln sich Lektionen des Universalisten in wundersam mäandernder Form. Garantiert generalisiert. Für jeden etwas, für alle nichts -– oder alles. Die Püppchen tanzen lassen, vor und hinter dem Orchestergraben. Ein ganzes Volk von Souffleuren und Souffleusen zur Selbsterregung, selber staatsinhaftiert und von Verantwortung freigestellt.
Passepartouts für Weichbilder. Damit das Bild in Wohlfahrt und Hoffart gefälligst nicht zerlaufe, offeriert der Beweger passende, aber ungefällige Passepartouts. Auch das muß verdaut werden, neben all der Butter. Hau' dem Gemütsknick ins Genick. Sofas, unter die Dreck gekehrt wird, und weiche Kissen für ermattete Spießerhäupter wird es immer geben. Gottsucher, ja die muß man finden. Oder sie erfinden sich selbst. Amen. Den zwanzigjährigen Rekruten von Rentnerbanden in der Republik die Konterbande infundiert. Hört auf zu rentnern! Das Leben ist zu kurz für Sesselpupereien: Wirtschaftswunderbarflink und pötisch um den restaurativen Kotflügel gedacht. Der Schmutz prallt ab an ihm, dem keimfreien Jahrzehnt der Persilscheinträger, zu Nivea geronnen die Milch der neuen Denkungsart. Wie eingeölt schmiert das Land auf alten Gleisen entlang. Der Barde Bazon sucht und findet sein Metier. Wiedergänger und Überflieger aus Frankfurts scuola und anderen edlen Bildungseinrichtungen, erstreitet, erredet, erschwindelt, erblödelt, erdenkt, erkämpft und schöpft er die unerschöpfliche Ästhetik der Vermittlung, schwatzt sich und die Republik in sein rhetorisches Repertoire: Exklamation, Animation, Kuratieren (= Heilen der Künste), Mediation etc.
Die creme de la creme POPulärer Sottisen in folgender Dekade – weder allzu fromm, schon gar nicht opportun – auf Blech oder Buttons frech ins Volk gestreut. Der Meinungsknopfdistributeur verteilt nun Watschen an jene Gesinnungslumpen, die ihre Meinungen wie Hemden wechseln, um schließlich "die Revolution zu halluzinieren". Auch die Austreibung von Schweinereien vor BSE und MKS, Maulkorbzwang und Umweltsteuer muß hier rubrifiziert werden. Aber der Tod ist ein zäher Meister. Geistesblitze gegen den Strom der Zeit. Zeitlose Gleichungen, kein Ende der Parabel in Sicht. Gegen das Pathos dieser Formeln ist kein Kraut gewachsen. In Siebenmeilenstiefeln die Matrix der Lehre gefestigt wider die Leere des kommenden Jahrzehnts. Meinungskopisten wird der Marsch geblasen. Da kann keiner Schritt halten. Agit Pop. Jürgen, der Kampf gegen die Uneigentlichkeit der Landsleute geht weiter!
Dekadenromantik. Die 1970er als Forum maximum für den Rhetor maximus. Ein Volk von Unbelehrbaren und Unbeleckten erfuhr '68 die Initiation der Haltungslockerung – Rührt Euch! –, hatte Brand auf Neues. Sie wollten unterhalten und nicht mehr klein gehalten werden. Durch Staats- wie durch TV-Anstalten. Eine einzige große Staatsparty, mit Staatsknete geworfen. Der Beredsamkeit auf öffentlich-rechtlichen wie privaten Bühnen schlug fortan gold'ne Stund und den vom Beweger Bewegten das Stündlein. (In schwacher Minute ward dieses Jahrzehnt von BéBé lorbeergekränzet.) Quizshows, Talkshows, Demos, WG-Palaver, Debütantenbälle für Jungextremisten, Bürgerinitiativen, Besucherschulen, Straßenfeten, Aufläufe aller Art. Man debütierte, applaudierte, skandierte und debattierte sich um Kopf und Kragen. Hier tauchte sie auf, die formbare Masse. Eine Gesellschaft von Selbstfesselungskünstlern wollte betreut und in die Schranken gewiesen werden von einem, der die Gebrauchsanweisgen für den Weg rein und raus aus den Fesseln kennt und erklärt: weil er selbst drin steckt. Als ob eine Klarheit herzustellen sei?! –
Doch das Volk mochte lieber verweilen im warmen Mief von Sonderzulagen und Tarifverhandlungen. Die sich anbahnende Spaßgesellschaft. Noch das Scheitern diente er ihm als lustvolles Movens zur Überwindung geistiger Paralyse an. Aber es wollte nicht scheitern, sondern immer mehr für immer weniger. In einem Volke von Deiktikern, die mit stummem Gestus auf die Katastrophen ihres Jahrzehnts verweisen, die ihnen von staatswegen als Pandämonium präsentiert wurden: Ölkrise, Terrorismus, RAF, Atomkrieg – war und ist er der einsame Deuter, Propädeutiker, Volkes Lehrer, Weiser unter Ignoranten, die den Wohlfahrtsstaat gnadenlos schröpfen ... statt mit Energie zu haushalten und aus der Selbsterregung zu schöpfen.
Zehnjahrespläne oder Re-Dekaden. Gleichsam über Nacht waren alle zu Großgrundbesitzern von hausgemachten Problemfeldern geworden. Aber nur wenigen LPGs schien klar, wie man diese gründlich beackert. Wachstum erst mal ade. Die Zukunft wurde vom Radar gelöscht. Also redekadisierte man sich. Die Strategie geht auf bis heute: Der Konsumkrieg läßt sich nur durch immer schnelleres Recyceln befrieden. Wiederkehrer, Wiedervereiniger, Wiederkäuer, Wiedertäufer – sämtliche Tätertypen treten wider Willen auf den Plan. So gelang den Achtzigern der kurze Sprung in den müden Schoß der entropischen Neunziger, die nichts mehr erschüttert. Alles schon gesehen, alles schön erlebt. Multikulturelle mille Plateaux werden errichtet, zwischen deren Ebenen man hin- und herzappt, um sich selber ruhig zu stellen. Rastlose Ruhe im späten CD-Rom. Und nichts als heiße Luft fönt aus den schnellen Prozessoren. Ist seine und die unsere Antike schon vergessen? Die 1960er, Gründungs- und Blütejahre der Volksrepublik Verbokratien, mit ihrem Grundsatz: Pop als Programm. Hoch- und Subkultur, künftige Vergangenheiten und vergangene Zukünfte, A und 0 müssen volles Rohr miteinander kommunizieren. Vermittlung zwischen Orts- und Zeitzonen, aber auch zwischen den künstlerischen Welten ist gefordert. Zahlreiche Satellitenstaaten wurden auf seinen Rat hin gegründet; dort verstehen heute alle nur Werbung. Und das ist schon sehr viel. Der Rest ist bittere Zivilisation, und das bedeutet Arbeit im Schweiße der Selbstfesselung.
Was bleibt. Brock, der Navigator, steht am Heck des Narrenschiffs auf Schlingerkurs. Retten, was zu retten ist. Unser Lektor, unser Liktor, öffentlicher Diener an den Staatsinsassen. Je bockiger, desto happiger die Serviervorschläge in Sachen Menschenverstand. Aber ohne Moral bittesehr. Künstler dürfen, können, müssen diese bei der Paßkontrolle rational verpackt abliefern. Das Depot an Hirnschmalz ist dicht, und der Chapeau claque des Zauberers immer für eine Überraschung gut. Hut ab, was wären wir ohne Dich?
Undeutlich die Grenze zwischen Konfession und Profession, Bekenntnis und Berufung, denn gerufen wird er oft, berufen zu jedwedem Thema fühlt er sich stets, doch Bekennen gehört selten zum Programm. Dennoch – er scheint bekennender Konformist, der durch proklamierte Übererfüllung der Norm diese unterwandert und schließlich ad absurdum führt (oder auch nicht). Wandern auf dem schmalen Grat zwischen De- und Konstruktivismus, lange vor Derrida und anderen französischen Tagedieben. Die Subversion des Regelfalls ist das probate Brocksche Digestivum, hartem Volkesbregen den Geistesblitz oder wenigstens gedanklichen Qualm zu entlocken. Als Hüter der Normenklatura zeigt er mitunter fundamentalistische Züge. Das Fundament zivilisatorischer Errungenschaften wird den allzu Blauäugigen eingebleut, das Rückgrat aus Thesen- wie aus Mutterwitz in die schwache Brust gestemmt.
Zu diesem unermüdlichen Einsatz an Volkeskörper und -seele gehört weiß Gott der unerschütterliche Glaube an die Formbarkeit des Geistes und der Wille, zu marschieren, statt durchs Leben zu stolpern.
Jeannine Fiedler und Ulrich Giersch
(Text zur Festschrift für Bazon Brock an seinem 65. Geburtstag)
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